Alles außer Ahnung | ANDERSWOLF

ANDERSWOLF

Alles außer Ahnung

[cries in Gen-X]

Das Geheimnis

Usus operi
April 18, 2024

Ich habe ein Geheimnis, und nein: ich werde es nicht verraten. Nicht, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre, sondern weil es gar nicht um das eigentliche Geheimnis geht, sondern darum, wie ich beinahe daran zerbrochen wäre, ein Geheimnis zu haben. Anderen Menschen nicht davon erzählen zu können, nicht einmal dem Mann. Keinen Freundys, keinen Familienangehörigen, keinen Bekannten oder gar Unbekannten.

Ich hatte schon einmal ein Geheimnis. Auch damals wäre ich beinahe zerbrochen, weil ich befürchtete, niemals jemandem davon erzählen zu können. Lange habe ich geglaubt, es hätte mich gerettet, das Geheimnis gelüftet zu haben; tatsächlich war mir lange nicht bewusst, dass ich das Geheimnis und die dahinter liegende Wahrheit verwechselt hatte. Und dass es vor allem einen Unterschied zwischen den beiden gab. 

Das Geheimnis, dachte ich lange, sei meine Homosexualität. Das Geheimnis sei, dass ich irgendwie schwul geworden sei; dass ich mich verändert hätte und das für mich behalten müsse. Tatsächlich war ich natürlich schon immer schwul, tatsächlich gehörte meine Homosexualität schon zu meiner Identität, als Sexualität an sich noch lange kein Thema für mich war. 

Ich war, glaube ich, ein sehr expressives, theatrales, vielleicht flamboyantes Kind. Es gibt Bilder von mir in Kleidern meiner Urgroßmutter; Fremde, aber auch Mitschülys hielten mich wiederholt für ein Mädchen. Menschen, die nur über ein binäres Verständnis von Geschlechterrollen verfügten, fanden mich nicht Junge, nicht Mann genug. Meine eigene Großmutter kommentierte meinen ersten Bartflaum mit: "Glaub nicht, dass dich das männlicher macht." 

Die Welt hatte mich da schon längst gelehrt, dass Selbstexpression anstößig war. Dass ich mich besser anpassen sollte, wollte ich nicht auffallen; denn Auffallen, das war die erste Lektion, wurde mit Schmähungen und (vorsichtig ausgedrückt) Liebesentzug geahndet. Also legte ich mir eine dicke Haut zu, versuchte nicht aufzufallen, versuchte zu verschwinden.

Erst als ich älter geworden war, erkannte ich, dass ich den Menschen, für den mich alle hielten, nicht kannte. Ich war tatsächlich verschwunden, war verloren gegangen hinter der Fassade, die aufrechtzuerhalten allmählich anstrengend wurde. Irgendwann erkannte ich, dass ich Masken trug, aber nicht, aus welchem Grund. Ich wusste nur: Ich war nicht der Mensch, der ich scheinbar geworden war. Ich war nicht ich selbst und war es lange nicht gewesen. 

Damals fühlte es sich an, als sei meine wahre Identität ein Geheimnis. Mittlerweile weiß ich: das Geheimnis war zu meiner Identität geworden. Das Geheimnis war nicht, dass ich schwul war. Hätte sich jemand genug interessiert, hätte jemand genauer hingesehen: es wäre klar gewesen. Das Geheimnis war, dass ich, besah ich mich selbst genau genug, wusste, dass ich mich verstellte und die Menschen glauben ließ, der Mensch, den sie in mir sahen, sei tatsächlich ich. 

Damals befürchtete ich, schwul zu sein, zerstöre meine Identität. Dass ich, leugnete ich es nur ausreichend ausgiebig, nicht schwul sein könnte. Und ich dachte, ich sei unglücklich, weil meine Homosexualität mein Selbst bedrohte.
Tatsächlich bedrohte das Geheimnis mein Selbst. Die Fassade, die Lüge, die Unaufrichtigkeit mir selbst und allen anderen gegenüber: Nicht ich selbst zu sein, bedrohte mich.

Das Geheimnis, das ich heute habe, ist keine Lüge, es ist ein Gefühl, von dem ich glaubte, es nicht fühlen zu dürfen. Vielleicht ist das auch das Geheimnis: dass ich glaube, meine Gefühle nicht sichtbar machen zu dürfen. Dass ich glaube, meine Gefühle seien invalide, irrelevant, egal. Und - ein Gefühl im Gefühl - dass auch die Trauer darüber, das Gefühl (aus welchen Gründen auch immer) nicht zulassen zu können, inakzeptabel sei. 

Gefühle sind komplex. Vielleicht gibt es Menschen, die verstehen, wie Gefühle ausgelöst werden, wie die Rezeption, die Expression, die Reaktion funktioniert. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, ich bin relativ fühllos. Nicht überraschend: ich trage immer noch die dicke Haut meiner Kindheit, ich habe gelernt, großen Schmerz von mir fernzuhalten. Mein Zahnarzt ist immer wieder neu beeindruckt, dass ich auf eine Betäubung verzichte.

War ich einst darauf stolz, bin ich es nicht mehr. Ich weiß mittlerweile, dass Schmerzresistenz manchmal auch ein Zeichen von Freudresistenz, von Depression sein kann oder zumindest ein Symptom emotionaler Dissoziation. Ich halte meine Gefühle auf Abstand, und während mich das manchmal davor bewahrt, verletzt zu werden (weil nur ich mich wirklich verletzen kann), halte ich damit auch Menschen auf Abstand. 

Ich wirke auf Fremde mitunter arrogant, überheblich, grob, kalt, unfreundlich, unwohlwollend. Ich weiß das, ich bin mir dessen bewusst. Ich glaube, dass Menschen, die mich dennoch mögen, weil ich eben doch manchmal offen und warmherzig und nahbar sein kann (wenn ich keine Angst vor ihnen haben zu müssen glaube), tatsächlich mein Gefühle wahrnehmen können. Meine Zuneigung. Meine Sehnsucht. Meine Liebe. 

Dennoch stoße ich Menschen öfter von mir, als ich das will, bin abweisend zu Menschen, indem ich mich zu stark filtere, weil ich vor Unsicherheit alle Emotion aus meiner Selbstpräsentation nehme. Was selten bewusst passiert, aber hinterher erkenne ich es. Manchmal wird es mir während der Interaktion selbst bewusst - und es verstört mich. Ich versuche dann, normal, emotional, menschlich zu sein - und überkompensiere. Oder schalte komplett ab.

Vor ein paar Monaten schrieb ich, jemand habe mir gesagt, ich halte mich zurück - und wie sehr das offensichtlich stimmt. In Konfrontation mit dem geheimen Gefühl ist mir bewusst geworden, wie tief das reicht und was es alles bewirkt, verändert, verhindert, zerstört. Ich sehe Menschen, die ich meine Freunde nenne, und ihre sorgenfreie Expression ihrer Gefühle und ich sitze daneben und sehne mich danach, meine Emotionen nicht als aufdringlich zu sehen. 

Eine Weile schon sind mir Berührungen unwohl. Schon vor Corona fand ich es mindestens lästig, anderen Menschen die Hand geben zu müssen, seither muss ich mich ernsthaft überwinden, der sozialen Norm nicht zu widersprechen. Legt mir jemand die Hand auf die Schulter oder auf den Rücken oder schlimmer: auf das Knie, muss ich mich zusammenreißen, nicht zurückzuzucken.

Und das betrifft keine Fremden, sondern Menschen, die mir nahe sind. Umarmungen mag ich, liebe ich, brauche ich, geben mir den besten emotionalen Halt, doch alles andere? Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Neulich habe ich in einem Sitzkreis mit gemischten Sitzhöhen der Person neben mir den Kopf ans Knie gelegt, weil ich die Person mag und sie mich wohl auch, immerhin wurde mir als Reaktion der Kopf gestreichelt.

Ich will glauben, dass sich das gut anfühlt. Dass Menschen das mögen. Ich will es verdammt noch mal selbst mögen. Aber die Wahrheit ist: ich fühlte mich unwohl, fühlte mich plötzlich aufdringlich, fühlte mich, als hätte ich einer anderen Person eine emotionale Geste abgenötigt. Also habe ich meinen Kopf zurückgenommen, mich anders hingesetzt, mich entzogen, abgeschirmt, abgegrenzt. Und mich gleichzeitig gefragt, was mit mir nicht stimmt. 

Denn wenige Tage zuvor noch habe ich einer anderen Person Trost gegeben mit einer Umarmung, mit einer Hand auf der Schulter, dem Arm, der Hand. Ich wollte der Person zeigen: es ist sicher, deinen Schmerz zu fühlen, du wirst nicht darin versinken, ich bin hier, um dich zu halten. Weine dich an mir aus, ich bin ein sicherer Hafen. 

Ich weiß, dass Gefühle zu zeigen, Gefühle zu haben, Gefühle zu fühlen, keine Schwäche ist. Ich weiß, dass schwach zu sein keine Schwäche ist. Ich weiß, dass, wer immer nur stark zu sein versucht und nichts an sich heranlassen will, vor allem ängstlich ist. Was aber bin ich, wenn ich einfach nur taub bin und mir zumindest attestieren würde, relativ angstfrei zu sein?

Das geheime Gefühl zu haben und es mit niemandem teilen zu können, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich habe mich so sehr in dieses Gefühl hineingesteigert, dass ich fast schon dummes Zeug deswegen gemacht hätte. Nichts gefährliches, aber einfach Unsinn. Dinge, die ich später ganz sicher bereut hätte. Ich war wie besessen davon, auf dieses Gefühl zu reagieren, egal wie - und wollte gleichzeitig nichts davon wissen. 

Schließlich habe ich es aus mir herausgeschrieben. Vor Jahren, vielleicht Jahrzehnten habe ich die Morgenseiten von Julia Cameron entdeckt in ihrem Buch "Der Weg des Künstlers". Jeden Morgen auf drei Seiten handschriftlich alle Gedanken, die mich beschäftigten oder auch nur streiften, festzuhalten und so meinem Gehirn die Möglichkeit zu geben, sie loszulassen, weil sie ja irgendwo aufgeschrieben und damit gesichert waren, hat mich viele Jahre stabilisiert. 

Also habe ich es wieder so gemacht: geschrieben, geschrieben, geschrieben, einen ganzen Tag lang alles, was sich in mir aufgestaut hat, Wort für Wort aus mir heraus und aufs Papier fließen lassen. Dachte ich anfangs noch, nach einer Stunde dürfte ich fertig sein, habe ich nach mehreren Stunden akzeptieren müssen, dass ich so viel in mir trage, das ich nicht ausgesprochen habe in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht Jahren. 

Ich habe festgestellt, dass ich viele Momente nicht verarbeitet, viele Abschiede nicht betrauert, viele Ängste nicht konfrontiert und vor allem viele Gefühle nicht gefühlt hatte. Das ganze letzte Jahr beispielsweise war eine Operation am offenen Herzen und ich habe nie richtig innegehalten, um mich damit auseinanderzusetzen, was das mit mir gemacht hat. Mir war bewusst, wie allein ich zwischendurch auf dem Dachboden war, aber nicht, wie einsam ich war. 

Das Geheimnis wird noch eine Weile ein Geheimnis bleiben, ich werde es nicht verraten. Es spielt aktuell keine Rolle mehr, denn ich habe das Gefühl, das ich nicht fühlen wollte, verstanden. Habe verstanden, was es mir sagen wollte; habe verstanden, dass ich nicht loslassen konnte, so lange ich mich ihm verweigert habe. Indem ich dem Gefühl Raum gegeben habe, konnte ich mir selbst die Freiheit geben, anders auf mein Leben und das Gefühl darin zu blicken. 

Natürlich bin ich immer noch nicht wieder ganz. Wie auch? Ich trage immer noch Ballast mit mir herum, sonst begriffe ich beispielsweise meine Mobbing-Erfahrungen nicht als Teil meiner Biographie. Aber wir alle tragen Schmerz in uns, Erinnerungen, die uns belasten, aber eben auch Erinnerungen an gute Dinge, Zeiten, Menschen. Wir alle haben manchmal Geheimnisse und geheime Gefühle, und irgendwie ist das auch okay. 

Was nicht okay war, was niemals okay sein wird, ist sich den Gefühlen zu verweigern, sie zu ignorieren oder gar abzulehnen. Sie herunterzuschlucken, um sie nicht fühlen zu müssen, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen: das kann nicht funktionieren. Wir müssen unsere Gefühle nicht unbedingt mit jemandem teilen, wir können sie Geheimnisse sein lassen. Aber wir müssen trotzdem akzeptieren, dass sie sind. 

Atmen Sie - natürlich!

Von der Front
März 18, 2024

Übrigens lebe ich noch, bin nicht tot, war nur beschäftigt. 

Neuerdings mache ich, weil kaputter Rücken seit 2015, Kraftsport. Vor allem, wie die App sagt, für eine starke Mitte. Nie habe ich mich schwächer gefühlt als jetzt, da ich Übungen für eine starke Mitte mache. Alles schmerzt, alles zieht, alles irgendwie doof. Immerhin fühlt sich der Rücken manchmal besser. Manchmal nicht. Eigentlich also wie alles. 

Klar machen die Übungen einen Unterschied: sie zeigen mir auf eine ganz neue Weise, was alles ich noch nicht kann. Atmen zum Beispiel. Da mache ich seit fast sieben Jahren Yoga und die dazugehörigen Atemübungen, aber Luft bekomme ich trotzdem keine. Oder zumindest nicht richtig. Die App sagt einatmen - ausatmen: ein in die Entspannung, aus in die Anspannung. Ich komme da nicht mit. Entweder bin ich zu schnell oder zu langsam, mal gegenläufig, mal ersticke ich fast, während ich mich an die Anzahl der Wiederholungen zu erinnern versuche. Und dann sagt die App, als hätte sie meiner Krampfatmung gelauscht: Atmen sie natürlich. 

Sagt es allerdings nicht, wie normale Menschen es sagten, ist ja doch eine computergenerierte Stimme, die keine Ahnung hat, wie ordentliche Intonation zu klingen hat. Sagt also: "Diese Übung ist großartig für ihre Bauch. Und Rückenmuskeln." Oder: "30 Sekunden Kind-Erstellung." Oder: "24 Push-uuuups". Oder eben: "Atmen Sie - natürlich!" Wie als Antwort auf die Frage, was sinnvoller sei: atmen oder nicht atmen. Als wäre es komplett absurd, nicht zu atmen. Und stimmt ja auch irgendwie, Atmen ist ja ganz sinnvoll. Gleichzeitig fällt mir auf, wie wenig ich tatsächlich atmen kann, automatisch, instinktgetrieben. Natürlich. 

Andererseits auch nicht neu: ich traue mir und meinen Instinkten ja eh nicht, ich muss schon arg abgelenkt sein, dass ich tatsächlich mal impulsiv handele. Entschiede ich mich mal nicht erst nach einer einstündigen oder einwöchigen Reflexionszeit (je nach Schweregrad aller potentiellen Konsequenzen), sondern quasi reflexhaft, ich wüsste gar nicht mehr wohin mit meiner vielen neu gefundenen Freizeit. 

So verbringe ich viel prokrastinatorische Zeit damit abzuwägen, welchen Einfluss eine Entscheidung nicht nur auf mein Leben haben könnte, sondern auch auf das des Mannes, der Eltern, der Freunde, der Nachbarn. Vielleicht - je nach Entscheidung - auch auf das Leben aller Menschen. Klar: ethischer Konsum und ein Verzicht auf Produkte, die unter menschenunwürdigen oder umweltschädigen Umständen hergestellt worden sind, sind schon irgendwie geil, aber wenn ich drei Tage mit Abwägungen verbringe, ob es nicht vielleicht viel sinnvoller wäre, meine zerfetzten Leibchen ein weiteres Jahrzehnt zu tragen, als ein Grünknopf-Shirt im Internet zu bestellen, dann ist irgendwas nicht in Ordnung. Und zwar mit mir. 

Klar, auch mit einer Menschheit, die einfach hinnimmt, unter welchen Umständen Kleidung hergestellt wird (und wer noch nie davon gehört hat, wie schmutzig, umweltzerstörend und menschenverachtend das Modegeschäft ist, darf sich gerne bei mir melden). Und während meine individuellen Kaufentscheidungen jetzt auch nicht dazu führen werden, dass vermehrt nachhaltigere Fasern wie Hanf, Lein oder Ramie angebaut oder die gesundheitsschädlichen und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft beendet werden, habe ich doch das Bedürfnis, keinen Mist zu kaufen, weil: irgendwie bin ich ja dann doch ein Ökofanatiker. 

Und ja: Wäre für uns alle besser, wenn unsere Entscheidungen altruistischer, empathiebasierter, nachhaltiger oder zumindest weniger selbstzerstörerischer wären, aber ganz ehrlich: darum geht's mir doch gerade gar nicht. 

Mir geht es darum, dass ich mich mit meiner Entscheidungsunfähigkeit, vielleicht auch Entscheidungsunwilligkeit manchmal so sehr blockiere, dass ich am Ende gar keine Entscheidung treffe; und das ist - Überraschung - nicht gut. Mir geht es darum, dass ich mich mit meinen Gedanken so sehr beschäftige, dass ich halb ersticke, obwohl ich mich doch einfach nur darauf konzentrieren sollte, bei den Spiderman-Push-Ups (oder wie die Stimme sagt: Spiedermann-Push-Uhps) den Körper in einer geraden Linie und das angewinkelte Bein parallel zum Boden zu halten. 

Aber immerhin mache ich den Kram, lausche der Stimme, wie sie komplett emotionsbefreit sagt, ich solle doch einfach noch mal 16 Diamant-Pushups machen, als läge ich nicht schon seit drei Übungen schmerzverkrampft auf dem Boden. Meine Protestrufe ignoriert sie, sie interessieren sie nicht, es ist ihr so sehr egal, man könnte glauben, sie wäre ein Roboter. Die haben's nämlich leicht zu sagen, man solle einfach nur natürlich atmen. 

Alles offen

Von der Front
Dezember 21, 2023

Seit heute Neubürger, diesmal ohne Willkommenspaket. In Bad Nauheim gab es noch eine Infobroschüre, ein paar Gutscheine für ermäßigten Eintritt und einen verbalen Händedruck vom Bürgermeister, den ich kurz danach mit meiner frisch zugezogenen Stimme abzuwählen geholfen habe.

Hier nichts davon. Aufkleber auf den Perso, fertig. Ist vielleicht auch einfach eine Frage der Zeitläufte. 2006 ist nicht 2023. Und erst recht nicht 2024, das mich ein bisschen einschüchtert, will nicht lügen. 2006 war alles dermaßen klar: noch kein Abschluss, noch keine Finanzkrise, noch keine Arbeitslosigkeit, noch keine Käsetheke, noch kein Theater, noch keine gefühlte Selbständigkeit. Erst recht noch keine Pandemie, kein mich tangierender Krieg, einfach nur postmoderne Überwindung der geschriebenen Geschichte. Abarbeiten dessen, was schon gegeben war. 

2024 nichts davon. Heute hoffentlich Ende der scheinbar endlosen Baustelle mit dem letzten zu installierenden Wasserhahn; nach nur einem knappen Jahr, das sich in meiner Aufteilung zwischen neuer und alter Stadt, Verabschieden und Ankommen, dem Reisen und Vergleichen, der Wehmut und der Vorfreude ziemlich fragmentiert anfühlt. Die Monate auf dem provisorisch eingerichteten Dachboden schnurzeln retrospektiv auf wenige Wochen zusammen. 2023 hat aufgehört, vergehende Zeit zu sein, es existieren nur die Schnappschüsse und Statusaufnahmen der sich ewig wandelnden Wohnung. 

Fehlen noch Weihnachten und Silvester. Angebliche Meilensteine nach einem Umzug. Oder eigentlich Rettungsanker für am Umzug Verzweifelnde: Immerhin können wir Weihnachten schon in der neuen Wohnung feiern. Sagt man so und hat keine Ahnung, was das eigentlich bedeutet. 

Wobei Bedeutung ja überbewertet wird: Dinge bekommen ihre Bedeutung durch unsere Beimessung. Was uns irrelevant erscheint, wem wir keine Aufmerksamkeit schenken, bedeutet uns nichts. Das bedeutet nicht, dass diese Dinge, diese Menschen nicht relevant sind. Aber wir nehmen sie nicht wahr. Manchmal ist das okay, manchmal kann das bedeuten, dass sich Entwicklungen außerhalb unserer Wahrnehmung anschleichen und wir sie erst wahrnehmen, wenn es vielleicht schon zu spät ist, sie noch zu gestalten. 

Der Klimawandel ist so eine Sache, die Fragmentierung der Gesellschaft eine andere. Der Siegeszug des Maskulinismus vielleicht eine dritte. Die drohende Offenheit von 2024 eine ganz eigene. 

Mir fehlt jede Perspektive auf das nächste Jahr. Ja, ich habe eineinhalb Urlaube geplant, ein hautärztliches Screening im Januar und eine Zahnreinigung im Juni. Außerdem noch ein Theaterstück Anfang Mai, dafür wird regelmäßig geprobt werden, aber sonst? 

Ich will und muss arbeiten. Das nach dieser langen Zeit ohne feste Arbeit anzugehen, ist verwirrend. Ein paar Bewerbungen habe ich ja erwähnt. Mittlerweile sind es immer noch kein Dutzend, und immer noch bin ich unschlüssig, was ich will. Die letzte Stelle, bei der ich vorstellig geworden bin, hätte wahrscheinlich den Eindruck von Arbeit wieder erweckt, den ich im Verein hatte. Gemeinsam mit Freunden an der Realisierung einzelner Projekte gewerkelt. Das wäre wahrscheinlich schön gewesen. Bis auf den Umstand, dass ich nur hätte zuschauen können, weil ich vor allem für Telefon und Ablage dagewesen wäre. Gibt schlimmeres, ist aber unterhalb meines Ehrgeizniveaus.

Ja: ich besitze dann doch Ehrgeiz. Ich will Dinge erreichen, bewegen, verändern. Ich will zeigen, dass ich etwas kann und was ich kann. Ich will Menschen berühren, zum Nachdenken bringen, sie vielleicht sogar unterhalten. Natürlich will ich auch gemocht werden, wer will das nicht. Aber nicht um jeden Preis, nicht von allen. Wer sich zu sehr bei allen beliebt machen will, wird beliebig. Unklar, unsicher, unschön anzuschauen. Ungern als Begleitung zu haben. 

Dann doch lieber eine Persönlichkeit wie 2023: indifferent, fragmentiert, nicht immer toll, aber immer aufregend. Die Sicherheit unzuverlässiger Bahnreisen und die Unberechenbarkeit bestellter Handwerker, gepaart mit der Aussicht auf ein Happy End, weil es anders ja eh nicht geht. Weil nichts anderes am Ende passieren kann. Außer vielleicht: neues Jahr, neues Ich - neue Stadt, neues Leben. 

Was werden wird? Keine Ahnung, wirklich: ich weiß es nicht, weil ich es nicht weiß. Die Zukunft ist ungeschrieben, es gibt nichts abzuarbeiten. Alles offen, alles gleichzeitig einschüchternd und euphorisierend. Ich bin gespannt. 

Edit: Und ja: ich habe das im Dezember geschrieben und dann erst im März veröffentlicht, weil mir einfach so viel Leben dazwischenkam. Kann passieren. Auch den besten, also auch mir. 

Einleben | Nachtrag

Störsatz
November 21, 2023

Nichts übrigens räumt die Wohnung so schnell auf wie überraschend angekündigter Besuch. 

Einleben

Von der Front
November 20, 2023

Herbst schon wieder, und meine Gedanken wie vom Winde verweht: überall, nur nicht hier. Ich versuche noch, meine Gefühle für die alte Heimat festzuhalten; gleichzeitig frage ich mich, ohne eine Antwort in mir zu finden: wie werde ich mich fühlen, wenn ich hier angekommen sein werde?

Wobei: angekommen bin ich ja. Die Möbel stehen, die Schränke sind eingeräumt, die gröbste Unordnung ist beseitigt, nur wenige Dinge suchen noch ihren Platz. Und auch verabschiedet bin ich irgendwie: die alte Wohnung ist gewienert übergeben, nur in der Garage stehen noch ein paar Sachen für den Wertstoffhof; und die Menschen dort habe ich so oft zum letzten Mal umarmt, dass sie sich schon gewundert haben, ob das mit dem Umzug nur ein Hoax war. 

Warum also fühle ich mich hier noch nicht eingelebt? 

Das fragen die Leute nämlich dauernd jetzt: Habt Ihr Euch schon eingelebt? Auf Instagram, über WhatsApp, in Telefonaten, selbst bei Gesprächen mit den fast noch unbekannten Nachbarn, die aber den spektakulär rasanten Einzug bezeugen können: Seids scho eigleebd?

Was das wohl heiße, frage ich den Göttergatten, sich einleben. Wann ist man so eingelebt, dass man nicht mehr nur ankommt? Und ist das ein anderer Punkt bei ihm als bei mir, weil ich die Stadt, die Leute, die Geschäfte und irgendwie alles schon kenne? Gibt es ein Punktesystem, eine Skala von Da bis Hier, an die man das Herz anschließen kann, so dass objektiv gemessen werden kann, ab wann nostalgisches Vermissen nur noch Fernweh genannt werden wird?

Der Göttergatte zuckt nur mit den Schultern und sagt: "Vielleicht ist man eingelebt, wenn man sich nicht mehr verläuft in der Nachbarschaft." 
"Vielleicht", sage ich, "wenn man blind in die seit dem Umzug siebenmal umgeräumte Besteckschublade greift und sofort das richtige Kneipchen erwischt." 
"Kneipchen", sagt der Göttergatte.
"Kneipchen", sage ich und: "Oh je."

Vielleicht muss man sich die alte Heimat auch erst ordentlich ausleben, bevor man die neue Heimat drüberleben kann. Vielleicht muss man dem Gehirn Worte wie Kneipchen und Kolter auswaschen, bevor sich das hiesige Vokabular einnisten kann. Wie viel Schäuferla und Schdaddwoschd muss i neischbachdln, um Äppler und Ahle Worscht hinter mir zu lassen?

Ist ja auch keine Sehnsucht in mir nach der kleinen Stadt. Ich will nicht zurück in die alte Wohnung, die zwar hübsch, aber ohne uns zuletzt nicht nur leer, sondern ganz traurig aussah (und überraschend renovierungsbedürftig an manchen Stellen). Ich will vielleicht zurück zu den Menschen dort, aber nicht in die kleine Stadt, in deren Straßen und Gässchen ich mich so arg hineingelebt hatte, dass mir schon ganz phlegmatisch war. 

Nicht dass mir das Aufraffen hier leichter fiele, aber hier springt einen die Arbeit überall an. Der Dachboden, wo Übriges provisorisch verstaut wurde, wartet auf Ordnung, der Garten legt mir auch schon den rotgoldenen Laubteppich aus. Eine Arbeitsstelle will gefunden und Text für ein neues Theaterprojekt will gelernt werden. Ich will und muss noch einige Kontakte knüpfen, zwei Vereine will ich mir noch anschauen; und vom nahenden Weihnachten und Silvester will ich gar nicht anfangen. Wir wissen nicht mal, wo der überdimensionierte Ficus stehen soll, wohin mit einem Weihnachtsbaum?

Und trotzdem will ich lieber zurückblicken, will irgendwie den Jahren in der baldigen Fremde einen würdigen Abschluss geben, eine herzwärmende Geschichte erzählen, während gleichzeitig die Natur selbst mit Flugblättern um sich wirft, auf denen ein sehr deutliches Memento Mori zu lesen ist. Gedenke deiner Sterblichkeit und vergeude nicht deine Zeit damit, etwas festzuhalten, was dir ja doch durch die Finger rinnt. Asche zu Asche, Laub zu Laub. 

Überhaupt, welch Luxus, dass ich mich nicht nur bequem in einer frisch renovierten Wohnung einleben darf, sondern auch ganz gemütlich aus der alten Heimat ausleben konnte. Abschiede noch und nöcher, immer wieder versichernd: Wir sind noch da, wir sind noch nicht fort, wir bleiben noch ein Weilchen. Trauert nicht um unseren Fortgang, denn wir gehen ja noch nicht. 

Wie viele Menschen haben diesen Luxus nicht? Wie viele brechen nicht ein ganzes Jahr lang ihre Zelte ab, sondern haben nur Wochen, vielleicht nur Tage, gar Stunden, bevor ihr altes Leben implodiert und nichts davon mehr für sie erreichbar ist? Werden auch sie gefragt in einer Heimat, die sie sich nicht vor Jahren und Jahrzehnten schon ausgesucht haben, ob sie sich denn jetzt schon eingelebt hätten? Ob sie ihre alte Leben denn schon endlich losgelassen hätten und die Hoffnung, dass jemals wieder irgendwas so werden könne, wie es einmal war? Sie sind wie Laub von den Zweigen ihres Lebens gerissen worden und liegen nun willkürlich in die Welt geworfen, teils Spielball der Winde, teils der Gravitation, und haben keine Wahl, keinen Einfluss.

Vom neuen Balkon aus schaue ich in den Himmel und sehe den wild fortgepusteten Blättern nach. Manche zieht eine Böe bis weit über die benachbarten Dächer in die nächste Straße oder sogar noch eine Kreuzung weiter. Die Blätter sind hilflos, taumeln durch die Lüfte so arg, dass ich, so bewegt mich mein Abschied doch hat, froh bin, dass mir dieses Trudeln erspart geblieben ist. Dass ich mir den Ort, an dem ich fortan leben wolle, selbst habe aussuchen können. 

Ob wir uns nun also schon eingelebt hätten, fragt K per E-Mail. Sie habe über Umwege erfahren, dass ich zurück in die Heimat gezogen wäre und dass sie das ja schon immer gewusst habe. Seine Wurzeln vergesse man ja dann doch nicht. 

Ich gebe auf und schreibe zurück: Wir suchen noch ein bisschen nach unserem Platz, aber im Großen und Ganzen, ja doch, leben wir uns ein.

Anders

Semiliterarisches Lebenslogbuch von
Anders Wolf, ab und an
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